Das ist NEU: Kritiker mundtot machen - UPDATE

Montag, den 14. September 2020 um 06:44 Uhr News Ticker - Offene Worte
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Prozess wegen Aufklärung zum Pestizideinsatz ist ein massiver Angriff auf die Meinungsfreiheit

[Deutschland + Südtirol / Norditalien] Vor dem Landgericht in Bozen läuft ein Strafgerichtsprozess gegen Mitarbeiter des Umweltinstituts München (UIM). Der Buchautor und Filmemacher Alexander Schiebel sowie sein Verleger vom oekom Verlag sind ebenfalls verklagt worden. Vorgeworfen wird ihnen unter anderem üble Nachrede zum Schaden der Südtiroler Landwirtschaft, weil sie über den hohen Pestizideinsatz in Südtirol und dessen Folgen berichtet haben.

Im Raum stehen immense Forderungen nach Schadensersatz

Der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft, Arnold Schuler, sowie mehrere Südtiroler Landwirtinnen und Landwirte hatten Anzeige erstattet und die Südtiroler Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Anklage.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die Klima-Allianz Deutschland, der Worldwide Fund For Nature (WWF) und der Umweltdachverband Deutscher Naturschutzring (DNR) kritisieren das Vorgehen der Politik und der Anzeige erstattenden Landwirte und Grundbesitzer scharf.

Hierzu erklären sie übereinstimmend:

„Wir erklären uns solidarisch mit den Angeklagten und sind entsetzt über die Klage. Kritik und freie Meinungsäußerung sind elementare Bestandteile einer Demokratie. Die Meinungsfreiheit ist eine wertvolle Errungenschaft für unsere Gesellschaft und ist in der Europäischen Union im Vertrag von Lissabon verankert. Versuche, Kritikerinnen und Kritiker per Anzeigen und Klagen mundtot zu machen, verurteilen wir aufs Schärfste.“

Durch die Klagen in Südtirol wird nach Auffassung der Verbände billigend in Kauf genommen, dass Bürgerinnen und Bürger wie auch Institutionen sich aus der Diskussion über umweltpolitische Fragen aus Angst vor unabsehbaren juristischen und wirtschaftlichen Folgen zurückziehen.

Die Verbände halten es für dringend notwendig, in Europa weiter eine offene und angstfreie Debatte über die Zukunft der Landwirtschaft zu führen. Sie fordern die Kläger auf, ihre Anzeigen zurückzuziehen und mit Zivilgesellschaft, Kommunen und Bürgerinnen und Bürger in einen offenen Dialog zu treten, um gemeinsam europäische Landwirtschaft zu gestalten und dabei Gesundheit, Klima und Artenvielfalt zu schützen.

Denn die Diskussion über Alternativen zum chemisch-synthetischen Pestizideinsatz im Südtiroler Obstanbau sei angesichts von Klimakrise und massivem Artensterben dringend geboten, so die Verbände.

Hintergrund: Obstanbau in Südtirol

In der Provinz Südtirol wachsen auf circa 18.000 ha Anbaufläche Äpfel. Rund zehn Prozent der insgesamt in Europa geernteten Äpfel stammen von dort. Teilweise wird in den Apfelplantagen mehr als 20 Mal im Jahr gespritzt.

Die vor allem im Obstbau eingesetzten Insektizide und Fungizide verbreiten sich über den Wind und finden sich noch kilometerweit entfernt auf biologisch bewirtschafteten Feldern, Spielplätzen, Radwegen und in entlegenen Bergtälern wieder. Artenvielfalt und menschliche Gesundheit werden durch diese Pestizide beeinträchtigt.

Informationen zu pestizidfreien Kommunen:

Es tut sich was: www.bund.net/umweltgifte/pestizide/pestizidfreie-kommune/

Quelle Text: BUND


UPDATE

Pestizidprozess: Landesrat Schuler zieht Anzeigen laut Südtiroler Landesverwaltung zurück. Verteidigung begrüßt den Vorstoß, offizielle Bestätigung steht aber noch aus

Ende des Prozesses wäre Sieg für die Meinungsfreiheit. Verteidigung der Angeklagten ist weiter vorsichtig: Offizielle Bestätigung der Rücknahme vor Gericht liegt noch nicht vor. Auch alle 1600 Anzeigen der Nebenkläger müssen zurückgezogen und der Prozess durch das Gericht beendet werden. Verhandlung am morgigen Dienstag, 15.09., gegen Karl Bär (Umweltinstitut München) findet trotzdem statt.

München/Bozen, 14.09.2020. Laut einer Meldung der Südtiroler Landesverwaltung zieht der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft Arnold Schuler seine Strafanzeigen gegen das Umweltinstitut München, oekom-Autor Alexander Schiebel und den oekom verlag zurück. Laut Angaben des vertretenden Rechtsanwalts Nicola Canestrini wurde diese Information allerdings bis dato noch nicht offiziell bestätigt. Die Beklagten werten diesen Schritt als Zeichen, dass der öffentliche Druck für Schuler zu groß wurde. Sie hatten in Verhandlungen mit dem Landesrat stets klargestellt, dass die Rücknahme aller Strafanzeigen die Grundbedingung für eine außergerichtliche Einigung sei.

Dazu Nicola Canestrini, gemeinsam mit Francesca Cancellaro, Verteidiger der Angeklagten: »Wir sind natürlich sehr erfreut über die Ankündigung, dass Landesrat Schuler sich anscheinend dazu gezwungen sah, die Anzeige bedingungslos zurückzunehmen. Im Laufe des morgigen ersten Prozesstages wird sich klären, ob auch wirklich alle der über 1600 Strafanzeigen zurückgenommen wurden, und dementsprechend werden wir unsere Bedingungen für die Annahme zu Protokoll bringen. Was angebliche »geheime Verhandlungen« und sonstige Gerüchte angeht, weiss jeder, dass (übrigens: vertrauliche!) Vergleichsgespräche nur bei erreichter Einigung erfolgreich sind. In den im Vorfeld geführten Gesprächen konnte die Gegenpartei nicht einmal die entsprechenden Vollmachten der weiteren Anzeigenden vorweisen.«

Die Angeklagten begrüßen den Vorstoß ebenfalls. oekom-Autor Alexander Schiebel: »Die Welle der Solidarität, die über die ganze Welt bis nach Südtirol gerollt ist, hat bei Landesrat Schuler möglicherweise ein radikales Umdenken bewirkt. Wir werden allerdings nicht zu früh jubeln. Erst, wenn alle Angeklagten freigesprochen sind, können wir aufatmen. Bis dahin bleiben wir wachsam.«

Karl Bär, Agrarreferent beim Umweltinstitut München: »Sollte sich bewahrheiten, dass dieser skandalöse Prozess nun zu einem schnellen und guten Ende kommt, bedeutet das einen Sieg auf voller Linie für die Meinungsfreiheit in Europa. Die Einsicht, dass öffentlicher Druck und ein wachsames Auge der Gesellschaft strategische Klagen schon vor dem ersten Prozesstag zum Scheitern bringen können, dürfte sich bei potenziellen Klägern ebenso verbreiten wie unter den möglichen Opfern solcher Prozesse. Wenn wir dazu einen Teil beigetragen haben, dann haben wir noch deutlich mehr erreicht als einen bloßen Freispruch.«

Unterstützung erhalten Karl Bär und Alexander Schiebel von mehr als 100 Umwelt-, Sozial-, Verbraucherschutz- und Agrarverbänden sowie kirchlichen und direktdemokratischen Initiativen aus der ganzen Welt, darunter Greenpeace, die Deutsche Umwelthilfe, Slowfood, der Europäische Berufsimkerverband, Legambiente und der WWF Italien. Vertreten sind Organisationen aus 18 Ländern, von Italien über Ungarn bis Neuseeland. Zudem unterzeichneten bereits mehr als 200.000 Menschen aus ganz Europa einen Appell der Kampagnennetzwerke Campact und WeMove an Landesrat Arnold Schuler, in dem dieser aufgefordert wurde, seine Anzeigen fallen zu lassen.

Quelle: OEKOM-Verlag