Kochen wie damals in der 'guten alten Zeit'

Samstag, den 03. Dezember 2011 um 11:45 Uhr Das leibliche Wohl - Spaß am Kochen & Backen
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Anna Halm: Neues praktisches Kochbuch von 1900 (c) WikiCommonsWer alternativ kochen möchte, kann in alten und uralten Rezepten stöbern. Es muss ja nicht gleich das Mittelalter oder gar die Steinzeit sein. Im "Projekt Gutenberg" stehen im Internet neben vielen anderen historischen Büchern, deren Urheberrecht erloschen ist, auch teilweise 100 Jahre alte Kochbücher zur Verfügung. Die meisten auf englisch.

Was war das für eine Zeit - und sind die Gerichte noch zu verwenden?

Eine der Verfasserinnen hieß Hedwig Heyl, wurde 1850 geboren, und lebte im "Deutschen Kaiserreich", das von 1871 bis 1918 unter der Herrschaft der preußischen Hohenzollern als erster deutscher Nationalstaat bestand. Die Monarchie existierte eingeschränkt: Zusammen mit einem Reichskanzler regierte erst Kaiser Wilhelm I., dann sein Sohn Friedrich III. und zum Schluss der Enkel, Wilhelm II., bis nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution im Jahr 1918 die Republik ausgerufen wurde und er als Kaiser abdankte.

Im Gleichschritt dieser Zeit, auch Wilhelminische Epoche genannt, wurde das Handwerk industrialisiert, und viele Bauern verwandelten sich in Fabrikarbeiter, die in die Enge der Stadt zogen. Die Gesellschaft veränderte sich rapide, man reiste mit der neuen Eisenbahn, die Bevölkerung wuchs, und der eben entstandene Mittelstand aus Angestellten und Technikern entwickelte ein gehobenes Selbstbewusstsein. Das definierte sich über erbrachte Leistung und Vermögen, nicht mehr nur wie zuvor über die soziale "Kaste". Bislang hatten nur Männer ein Wahlrecht, Frauen nicht. Sie konnten sich lediglich auf dem Gebiet der Hauswirtschaft emanzipieren. Die Frauenbewegung der letzten Jahrhundertwende beinhaltete vorerst Bemühungen, sich grundsätzlich bemerkbar zu machen.

Kochen wurde wie ein Handwerk gelehrt

Wo Hausmädchen und Köchinnen bisher ihren Bereich hatten, sollte oder wollte die Frau zudem nun selbst ran, am Herd stehen und den kompletten Haushalt sowie die Aufzucht der Kinder eigenständig übernehmen, während der Mann außerhalb des Hauses seiner Beschäftigung nachging. Zu diesem Zweck waren Schulen gefragt, die das Wissen dazu gepackt und professionell vermittelten. Pädagogik wurde zum Schlagwort, und speziell für die Frau gab man eine Monatszeitschrift heraus. Darin wurden erstmals so wichtige Themen behandelt wie z. B. "Der Wille zum Kind".

Die Mode um 1900 (c) Manfred Heyde / WikiCommons1904 fand in Berlin der erste internationale Frauen-Kongress statt, an dem Frauenrechtlerinnen aus 25 Ländern teilnahmen. Auf der Liste der Teilnehmerinnen standen jedoch die Namen noch ganz artig verbunden mit dem Titel ihrer Ehemänner: Frau Geheimrat oder Komerzienrat X, Frau Oberbürgermeister Y, Frau Baurat... usw..

Ein bisschen Biedermeier lag da noch in der Luft. Das Bürgertum hatte lange Wurzeln in Idylle und geordneter Gemütlichkeit gebildet. Literatur, Hausmusik sowie erschwingliche Kunst für die Kommode oder als Schmuck für die eigenen vier Wände zeugten vom erreichten Wohlstand. Dazu führte der letzte machtstrebende deutsche Kaiser herrlich pompöse Militärparaden auf. Ihm nacheifernde Männer fühlten sich dabei wie Kolonialherren. Kleine Jungen steckte man anlässlich ihrer Mannwerdung so früh wie möglich in Matrosenanzüge und gab ihnen Holzschwerter zum Spielen.

Was blieb aktiven Frauen und und neugierigen Mädchen da anderes übrig, als sich die sozialen und pädagogischen Bereiche zu eigen zu machen. Ihre Rechte auf Bildung, Beruf und Erwerbstätigkeit wurden erst spät durchgesetzt: 1893 zum Abitur, 1900 die Zulassung zur Universität. Trotzdem galten als "natürliche Bestimmung" weiterhin Ehe und Mutterschaft. Die unbezahlte aufopferungsvolle Hausarbeit war dabei ein Teil der Rolle einer guten Hausfrau. Lediglich bei einer drohenden Entwicklung zur "alten Jungfer" konnten eine andere Qualifizierung und der Weg in die unabhängige Selbstständigkeit eine erstrebenswerte Alternative sein.

Hedwig Heyl brachte einen eleganten Spagat fertig zwischen Gutbürgerlichkeit und sozialem Engagement plus Kampf für die Rechte der Frauen. Ohne "aus der Rolle zu fallen", setzte sie manches durch und trug während des Ersten Weltkriegs noch tapfer und durchaus medienwirksam zum Durchhalten mit den von ihr organisierten Massenspeisungen bei.

1884 gründete sie die erste Koch- und Haushaltungsschule für Frauen, 1890 die erste Gartenbauschule für Frauen in Berlin-Marienfelde. Sie organisierte 1904 außerdem den Internationalen Frauenkongress in Berlin und 1908 die Internationale Volkskunstausstellung. Des Weiteren gehörte sie 1905 zu den Gründungsmitgliedern des Lyceum-Club Berlins, des ersten internationalen Frauenclubs in Deutschland mit einem Partnerclub in London. 1915 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des Deutschen Hausfrauen-Bundes.

Der Höhepunkt in ihrem Leben war 1912 die Organisation der Ausstellung "Die Frau in Haus und Beruf" auf dem Ausstellungsgelände am Zoologischen Garten, bei dem alle Bereiche der weiblichen Berufsarbeit präsentiert wurden. 1920 wurde sie mit dem Doktor honoris causa für ihre Verdienste um die Ernährungswissenschaft geehrt. Noch im Alter von 69 Jahren war sie als Abgeordnete der Deutschen Volkspartei in der Charlottenburger Stadtverordnetenversammlung tätig. (Quelle: Wikipedia)

Vieles bringt uns in Hedwig Heyls "Volkskochbuch von 1905" ins Grübeln

Auffällig ist für unser heutiges Verständnis bei den von ihr zusammengestellten Rezepten zur damaligen Hausmannskost, dass unter den genannten Zutaten oft Brot aufgeführt ist. Andererseits verwundert uns, dass Tauben beim Kochen der gleiche Stellenwert eingeräumt wurde wie Huhn oder Kalbfleisch. Dagegen trifft eine "Lungensuppe" überhaupt nicht mehr den modernen Geschmack. Und wo wir "Walderdbeeren" oder "Pfirsichblätter" für eine selbst gekochte Milchkaltschale herbekommen sollten, wissen wir sicherlich nicht auf Anhieb, wenn wir in dem Büchlein, wie sie es selbst nannte, stöbern.

Weiterhin wird neben einer reichlichen Verwendung von verschiedenen Sorten Bier u. a. Reis "abgewellt", "Schneeklöße" sollen auf Suppen fest werden und getrocknete "Prünellen" mit Hafergrütze einem Kranken gut tun. In irdenen Töpfen wird gekocht bzw. in einem energiesparenden "Selbstkocher", den sicher keiner von uns zu Hause hat, den man aber immer noch selbst herstellen kann.

Gespart wurde früher in aller Selbstverständlichkeit. Allerdings beschleicht einen bei dem Rezept einer "Schotensuppe" oder "Von in Wasser ausgekochten Spargelschalen und Fischwasser nach gleicher Art", der Verdacht, man könnte davon nicht wirklich satt werden.

Des weiteren pflegen wir ganz sicher inzwischen keine Aale mehr (mit dem Küchenbeil) selbst zu töten bzw. unseren Weihnachtsgänsen nach Vorschrift "Flügel, Hals, Kopf und Pfoten abzuhauen".  Auch haben wohl wenige von uns Lust, "Stinte vor dem Backen zu 6-8 Stück auf Hölzchen zu reihen, die man durch ihre Augen zieht".

Manche einfachen Rezepte reizen zum Nachkochen

Doch anstatt industrielle Fertigsauce aus dem Supermarkt zu verwenden, könnte man z. B. ganz einfach auf Hedwigs "Ölsauce zu Salaten, harten Eiern, kaltem Rindfleisch und Sülze" aus dem Buch zurückgreifen:

ÖLSAUCE FÜR 4 PERSONEN

20 g Öl                       
20 g Zwiebeln                 
20 g Mehl                     
3/31 Brühe                    
2 Eßl. Essig                 
1 Eßl. Kräuter, Schnittlauch, Petersilie                  
1 Prise weißer Pfeffer
Salz nach Geschmack

Vorbereitung: Die Kräuter werden gewiegt (= klein geschnitten mit einem bogenförmigen Küchenmesser mit parallelen Klingen und 2 Griffen) und abgewellt (= blanchiert). Die Zwiebeln werden klein geschnitten.
Zubereitung: Öl, Zwiebeln und Mehl werden zusammen durchgeschwitzt, mit 1/4 l Brühe und 1 Esslöffel Essig verkocht durch ein Sieb gestrichen und kalt gerührt. Dann tut man Kräuter und soviel Brühe, dass die Sauce die richtige Dicke hat, dazu und schmeckt mit Salz, Pfeffer und Essig ab.
Bemerkung: Man kann die Sauce mit gewiegten Kapern, Gurken, Mostrich (= Senf) und verrührtem Eigelb verfeinern.


Das Projekt Gutenberg finden Sie HIER <-KLICK

Bücher nach Sprachen sortiert anzeigen: HIER <-KLICK

Die deutsche Ausgabe mit rund 10.000 Büchern: HIER <-KLICK

Das kostenlose Volkskochbuch zum Download auf rund 110 Din-A4 Seiten: HIER <-KLICK
Tipp: Wenn Sie keinen Kindle o. ä. besitzen, nehmen Sie die UTF8-Textdatei.

Hinweise: Die etwas unverständlichen  Angaben "M 0,80" etc. sind die Kosten jener Zeit für die Zutaten in Mark. Einige Erklärungen zur Zubereitung und zu dem "Selbstkocher" finden Sie am Ende des Buches. Hin und wieder stolpert man über Tippfehler, die wohl vom Übertragen aus dem alten Werk herrühren. Einige Seiten fehlen, und bei der Kürbissuppe scheint etwas verrutscht zu sein. Kochen Sie also besser nichts "blind" nach, mixen Sie eigene Vernunft und eine Prise Logik dazu :-).


Das inzwischen wieder "gemeinfreie" Volkskochbuch haben Verlage kürzlich erneut heraus gebracht  - angeblich überarbeitet. Es kostet bei unterschiedlichen Anbietern mit 150 Seiten - gebraucht oder neu - von 28,70 bis 29,90 Euro bzw. 54,90 mit 400 Seiten im Buchstabengroßdruck.

Im Antiquariat soll es das Buch im Original - ganz historisch mit verschlissenem Einband - ebenfalls noch geben - und zwar für knapp 100 Euro. Ob darin dann die automatisch eingelesenen Schreibfehler ausgemerzt und die fehlenden Seiten vorhanden sind, können wir Ihnen leider nicht verraten. Wir wissen es nicht - und würden auch nie freiwillig Geld für etwas bezahlen, das wir auch umsonst bekommen - zudem die Rezepte nur noch eingeschränkt anzuwenden sind!

Quelle: Brigitta Möllermann, HESSENMAGAZIN.de

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